Bordbuch-Eintrag: Ankunft in Kazan 5.10.2012, Kilometerstand 15643, 149. Reisetag. Kilometer bis nach Hause: noch etwa 2133 plus 770 km Fähre Klaipeda – Kiel. Wetter 15 Grad, morgens wieder mal Regen, nachmittags bewölkt ohne Regen und warm.
Hinter Chelyabinsk beginnt der Ural. Es beginnen auch ein neuer Monat und ein neuer Mondzyklus. Unsere erste Nacht auf dem Ural (so heißt es in korrektem Russisch – wer diesen Blog von Anfang an mitliest, kennt diese Besonderheiten der russischen Grammatik) ist die vom 30. September auf den ersten Oktober, am 30.9. ist dazu noch Vollmond. Mit dem Monats- und Mondphasenwechsel ist auch ein Wetterwechsel verbunden. Irgendwie sind wir ja in Russland immer der Zeit voraus: wenn es hier 12 Uhr mittags ist, ist es in Deutschland gerade Mal 8 Uhr morgens und den goldenen Oktober hatten wir schon im September. Demzufolge ist es nur korrekt, wenn mit unserer Ankunft auf dem Ural Anfang Oktober nun der gefühlte November einsetzt. Die Blätter rieseln in Massen aus den Birken, sie ersten Bäume sind schon recht nackig.
Trotzdem wagen wir noch einen Abstecher zu dem Gebirgssee Zyuratkul im gleichnamigen Nationalpark. Auf dem Schild am Park- Eingang steht, dass es sich um den höchstgelegenen Gebirgssee Europas handelt (724 Meter). Das ruft bei uns zunächst ein zweifaches “Hä?” hervor: Ich dachte, wir sind noch in Asien, und vom Funtensee (1601 Meter) oder Matscherjochsee (3188 m) haben die wohl auch noch nichts gehört, oder sind die zu klein (um es mit den Worten eines bekannten deutschen Schlagersängers auszudrücken – wann ist ein See ein See)?
Der Aufenthalt am See erinnert irgendwie an den rauhen Charme eines Strandspaziergangs im November, es weht ein eisiger Wind vom Wasser her und tiefhängende dunkle Wolkenfetzen treiben über die Landschaft. Diesen rauhen Charme einer Wanderung am Ufer können wir genießen, jetzt wo die Saison vorbei ist, sind wir alleine in dieser herbstlichen Landschaft. Im Sommer muss hier die Hölle los sein, das sieht man an den zahlreichen Camping- und Feuerstellen und den obligatorischen Müllbergen. Nach der Wanderung zeigt sich, dass die Outdoor- Saison nun wirklich zu Ende geht. Schon am Nachmittag heizen wir den Ofen ein, Campingtisch und Stühle werden den Rest der Reise wohl drinnen verbringen. Zumindest gibt der Ofen so viel Wärme ab, dass wir die Türen auflassen und den herbstlichen Blick auf den See genießen können. Es ist aber klar, dass es langsam aber sicher kälter wird und wir deswegen ohne längere Zwischenaufenthalte weiter fahren wollen, bis wir Moskau erreicht haben.
Als wir am nächsten Morgen den Platz am Zyuratkul See wieder verlassen, beginnt ein Dauerregen, der den ganzen Tag anhält. Dazu passend erleben wir den Alptraum eines jeden LKW Fahrers: Der Gran Hermano bleibt im aufgeweichten Boden stecken und wühlt sich im Schlamm ein. Da hilft nur eins: Regenzeug anziehen und als erstes den Spaten herausholen, um die Räder freizuschaufeln. Zum Glück haben wir einen richtigen Spaten mit und nicht nur einen kurzstieligen Klappspaten. Denn um einen LKW freizuschaufeln, muss man schon einiges tun. Nach zwei vergeblichen Anläufen bekommen wir dann rückwärts den Wagen wieder frei. Ich hatte schon befürchtet, die Sandbleche benutzen zu müssen, das wäre einiges mehr an Action und Sauerei gewesen (irgendwo muss man das ganze verschlammte Zeug nach der Bergung ja auch wieder verstauen). So gibt es am Ende nur einen verschlammten Spaten und verschlammte Stiefel. Es gibt ja Leute, die behaupten, dass nur Allrad- Fahrer sich festfahren, weil sie glauben, sie kommen überall durch. Ich war aber immer sehr vorsichtig, der russischen Landschaft sieht man nach dem Regen ihre Tücken auch schon an. Aber irgendwann passiert es dann halt doch. Es ist wahrscheinlich so wie beim Reiten: Wer noch nie vom Pferd gefallen ist, kann doch eigentlich dar nicht reiten oder?
Nach diesem Abstecher führt die Reise Richtung Westen zunächst auf der M5 weiter durch den Ural bis nach Ufa, einer weiteren Stadt mit knapp über 1 Million Einwohnern. Auf dem Weg durch den Ural passieren wir irgendwann unbemerkt die Grenze zwischen Europa und Asien. Rustikale Essensbuden, merkwürdige Souvenierstände mit Plüschtieren und Samowaren sowie ein Hotel in einem ausgedienten Eisenbahnwaggon liegen am Rand dieser vor allem von LKW stark befahrenen Straße. Mit unserem Reisetempo von 65 km/h haben wir nach wie vor wenig Probleme mit dem Verkehr, wir müssen nur 2-3 Mal am Tag überholen.
Hinter Ufa, das wir auch umfahren, biegen wir ab auf die M7 Richtung Kazan und Moskau, ab hier ist Moskau nun auch ausgeschildert und auf den Entfernungstafeln vertreten. Das gibt uns das Gefühl, uns der Heimat zu nähern. Die Landschaft ist immer noch weit und endlos, doch seit wir in Europa sind, ist sie dichter besiedelt und die Birkenwälder und Sümpfe weichen riesigen Ackerbauflächen. Nach dem Dauerregen kommt ein eisiger Wind, und wir trauen unseren Augen kaum, als in einem kurzen Regenschauer am Morgen die ersten Schneeflocken durch die Luft wirbeln. Auch tagsüber ist es nur 3 Grad warm. Es geht wechselhaft weiter: Am Tag darauf (4.10.) scheint wieder die Sonne, am nächsten Morgen gibt es wieder Dauerregen. Der Regen hat in wenigen Stunden schon wieder den 500 Meter langen Feldweg zu unserem Stellplatz so dermaßen aufgeweicht, dass wir nur knapp dem erneuten Festfahren im Schlamm entgehen. Mit durchdrehenden Rädern, ausbrechendem Heck und Vollgas (wie auf Sand – bloß nicht den Fuß vom Gas nehmen) kommen wir noch zurück zur Straße. Am Vorabend im Sonnenschein sah die Straße noch fest und vertrauenserweckend aus.
Ebenfalls am 3.10. passieren wir die Grenze zwischen den Republiken Bashkortostan und Tatarstan. Hier wird die Uhr gleich im zwei Stunden zurückgestellt, ab jetzt gilt Moskauer Zeit. Zwei Stunden sind schon deutlich fühlbar, so können wir auch auf einer Autoreise einen kleinen Jetlag erleben.
In Kazan kommen wir am 5.10. an und gönnen uns eine kleine Auszeit im Luxus, doch darüber gibt es dann einen eigenen Beitrag.