Bordbuch-Eintrag: Ankunft in Chelyabinsk 30.9.2012, Kilometerstand 14629, 144. Reisetag. Kilometer bis nach Hause: noch etwa 3084 plus 770 km Fähre Klaipeda – Kiel. Wetter 12 Grad, Regen.
Wir verlassen Barnaul am 21.9. in strömendem Regen. Für die ganze Region um Novosibirsk ist schon seit unserem Aufenthalt im Altai häufig Regen vorausgesagt, auch für die kommende Woche prophezeit der Wetterbericht täglich Regen. Unsere Reise, die uns ursprünglich nach dem Motto “Follow the sun” der Sonne hinterher nach Süden bringen sollte, geht nun zurück nach Hause, und sie scheint sich dazu passend das Motto “Follow the Rain” oder “Run from the sun” für die Rückreise ausgesucht zu haben. Doch es gibt ein Entkommen, schon westlich von Omsk, etwa 850 km entfernt, sagt der Wetterbericht wieder Sonne voraus.
So entscheiden wir, aus diesem Grunde, und auch um auf der Landkarte ein sichtbares Stück voranzukommen, erst einmal ohne Zwischenaufenthalt nach Westen zu fahren. Barnaul hat unser Bedürfnis nach Stadt auch vorerst befriedigt, weswegen wir die Millionenstädte
Novosibirsk und Omsk ohne schlechtes Gewissen links liegen lassen. Novosibirsk empfängt uns mit breiten, teilweise achtspurigen Autobahnen, die durch Staus verstopft sind. Fährt man in die Einsamkeit Sibiriens, um Staus zu erleben? Ich denke eher, dass die Götter uns Regen und Staus in kleinen Portionen als erste Resozialisierungsmaßnahme schicken, um uns langsam wieder an Deutschland zu gewöhnen.
Die Durchquerung von Novosibirsk dauert wegen der Staus trotz breiter Durchgangsstraßen drei Stunden. Wie immer fehlen im Verlauf der eigentlich guten Ausschilderung an den Schlüsselstellen die Wegweiser, sodass wieder einmal das Smartphone als Navigationshilfe hinzugezogen werden muss. Barnaul war da wesentlich handlicher, wir sind froh, unseren Stadt-Tag dort verbracht zu haben.
Da wir Novosibirsk noch komplett durchqueren, kommen wir an diesem Tag auf etwa 8 Stunden Fahrt. Und siehe da – was passiert? Es gibt abends wieder Streit. Das hatten wir ja lange nicht, wir hatten ja in den letzten Monaten wenig stressige Tage, da wir wenig gefahren sind und viel gestanden haben. Und nun haben wir gegen das verstoßen, was wir unterwegs gelernt haben: Fünf bis sechs Stunden Fahrt pro Tag sind genug, dann kippt die Stimmung auch nicht. In den nächsten Tagen halten wir uns daran, und alles ist wieder wunderbar…
Hinter Novosibirsk wird die Fahrt dann so, wie man sich eine Sibirien- Durchquerung vorstellt: Die Straße führt 650 km fast schnurgerade durch die Ebene, alle Städte und Dörfer liegen neben der Straße. Es herrscht zwar relativ starker Verkehr, doch da wir langsamer sind als die meisten LKW, bedeutet das für uns Gas geben bis zur Reisegeschwindigkeit und den Fuß erst zum nächsten Stop wieder vom Gas nehmen. An uns zieht das herbstliche Sibirien in allen Gelb- und Orangetönen in einer endlos scheinenden Abfolge von Variationen vorbei. Fotos geben ja normalerweise eine zeitlich und räumlich begrenzte Momentaufnahme wieder, doch unsere Landschaftsaufnahmen in diesem Bericht sind ein Beispiel dessen, was uns über Tage begleitet. Hier erfahren wir, was Weite bedeutet. Irgendwann passieren wir dann Omsk auf einer passablen Umgehungsstraße, danach geht es einfach so weiter. Auf den Schildern taucht eine neue Stadt auf, wieder 628 km entfernt, danach wird die nächste folgen, doch selbst auf der großen Landkarte sieht man: Wir kommen voran.
Die Sonne bricht schon am Tag nach Novosibirsk wieder durch. Wir beenden unsere Fahrt deswegen immer rechtzeitig, um am späten Nachmittag noch draußen die restliche wärmende Abendsonne genießen zu können. Nachts wird es dafür kalt, wir erleben nun auch im Flachland den ersten Nachtfrost.
Am Stadtrand von Omsk verspüren Gran Hermano und Fahrer mit einem Mal einen starken Drang zum Anhalten an einem bestimmten Straßenrestaurant im Industriegebiet. Noch bevor wir uns das richtig erklären können, sehen wir durch die Glasscheibe des Raumes nebenan: Hier wird Bier gebraut! Und was für welches – gleich fünf Sorten, deren originale deutsche Namen einfach nur auf kyrillisch geschrieben wurden. Chelles, Waizen, Pilsener, Merzen und Schwarzbir gibt es, wie schön klingen diese Worte doch mit dem russischen Akzent der netten Kassiererin. Eine erste Kostprobe des frisch gezapften Märzen und Schwarzbier zeigt: Eines der besten Biere dieser Art, die wir je getrunken haben. Selbst in Franken müßte man schon ein wenig länger suchen, um so etwas zu finden. Das ganze gibt es auch noch zum Mitnehmen (in PET Flaschen), so haben wir abends auch noch was davon.
150 km hinter Omsk legen wir 26.9. am Ich-See noch einen Tag Pause ein. Der letzte Abschmierdienst auf dieser Reise ist fällig, ich werde gerade noch fertig, bevor Sturm und Regenschauer einsetzen. Nach der anschließenden Outdoor- Dusche bade ich noch einmal kurz (wirklich sehr kurz) in See, es wird wohl das letzte Mal in diesem Jahr gewesen sein. Am nächsten Tag bricht die Sonne wieder durch, wir haben wirklich Glück und erleben auch in den folgenden Tagen wieder einen goldenen sibirischen Oktober (so würde man bei uns sagen) im September. Die Nächte werden dafür frostiger, morgens gibt es minus 3 Grad mit Bodennebel. Nach dem Aufwachen müssen wir entsprechend einheizen, doch wir werden mit einer verzauberten Landschaft im Morgenlicht belohnt. Das ist dann der silberne Oktober, für Frühbucher in Sibirien wie immer schon im September vor dem offiziellen Verkaufsstart zu haben.
Die Straße wird hinter Omsk wieder schlechter, jedoch bei weitem nicht so schlecht wie in Kasachstan oder Usbekistan. Es gibt aber immer wieder Abschnitte, auf denen man die Geschwindigkeit drosseln muss, zum Glück sind diese meistens relativ kurz. Bei einem Stopp findet Sylvia Birkenpilze, die wir von zu Hause kennen, deswegen also auch sammeln und essen können.
Am 30.9. passieren wir dann die Industriestadt Chelyabinsk (in Volksmund “Traktorgrad”). Es ist ein regnerischer Tag, unsere Sonnenperiode wird vorerst unterbrochen. Hoffentlich kommt sie noch einmal wieder. Mit der Durchfahrt durch Chelyabinsk endet unsere erste Rückreise- Etappe. Hinter Chelyabinsk beginnt das Ural- Gebirge, gleichzeitig die Grenze zwischen dem asiatischen und dem europäischen Teil Russlands. Sibirien liegt damit hinter uns.