Bordbuch-Eintrag: Ankunft am Nordkap 1.7.2015, Kilometerstand 3271, 37. Reisetag. Wetter 7 Grad, die Sonne brennt.
Das Nordkap liegt auf der Insel Mageröya und gilt als nördlichster Punkt Europas. Das ist falsch, denn auf der gleichen Insel ein paar km weiter westlich in Sichtweite des Nordkaps liegt das nur zu Fuß erreichbare Knivskjelodden, dies ist der wirklich nördlichste Punkt (auch nicht der nördlichste Festlandspunkt, wie in der Nordkap-Broschüre steht, denn Mageröya ist eine Insel). Doch das stört niemanden, schließlich ist Knivskjelodden ist eine wenig Aufsehen erregende flache Landzunge und das Nordkap ist ein spektakulärer hoher und steiler Felsen, den man mit dem Auto erreichen kann. Also hat man diesen Punkt als Attraktion gewählt. Es stört auch niemanden, dass die wahre Mitternachtssonne (also der tiefste Stand der Sonne exakt im Norden) hier erst um 0:17 Uhr scheint. Um Punkt Null Uhr schauen alle in die Sonne und machen Fotos, um 0:10 Uhr leert sich der Platz. Wie im übrigen Leben ist die Wahrheit uninteressant. Es geht um die Show, das ist es was der Mensch wirklich braucht. Dazu hat man noch eine moderne große Halle (Nordkaphallen) mit Restaurants, Souvenirläden, Multimediashow und allem was dazu gehört dorthin gebaut.
Uns zieht es nach Verlassen des Gorsa Canyons nun immer schneller Richtung Nordkap und wir werden Teil der Karawane, die sich täglich dorthin wälzt. Auch wenn das Nordkap nicht als Ziel der Reise gesehen werden kann (denn wie man so schön sagt: Der Weg ist das Ziel), sondern als Wegmarke und Wendepunkt (die Straße hört dort auf, weiter nach Norden können wir nicht, also MÜSSEN wir umdrehen), verspüren wir auf den letzten Tagesetappen den starken Drang, schnell dorthin zu fahren.
Eine Ursache für diesen Drang ist sicher auch die Hoffnung, sogar die sichere Erwartung, dass wir durch die Fahrt Richtung Süden in den Sommer katapultiert werden. Etwas über fünf Wochen sind wir auf dem Weg in den Norden quasi wie ein Surfer auf der Welle immer vor dem Sommer hergetrieben. Der Sommer hat sich vom Süden über Deutschland langsam nach Nordeuropa ausgebreitet und wir waren ihm immer ein Stück voraus. Das Ergebnis war eine konstante Temperatur von etwa 8 Grad bei Regen und 11-12 Grad bei Sonne in den letzten fünf Wochen. Durch Ändern der Fahrtrichtung erwarten wir nun einen Frontalzusammenprall mit dem Sommer, der uns entgegenkommt. Wie bei dem Surfer, über dem am Ende die Welle auf der er reitet zusammenbricht.
Vorgewarnt vor den typischen Enttäuschungen eines Nordkap-Besuchs wie dem fast permanenten Regen und Sturm bei vier Grad auch im Hochsommer, dem Herdentrieb des Massentourismus (das Nordkap ist einer der meistbesuchten Orte Europas) treten wir am 1.7. die letzte Etappe an und werden dabei von Anfang an von den Lichtverhältnissen und Szenerie der letzten Etappe so eingefangen, dass für Enttäuschung kein Platz bleibt, Begeisterung macht sicht breit. Die letzten 120 km sind (man muss sagen wieder einmal) spektakulär, die enge Straße windet sich an steilen Felskanten den Porsangerfjord entlang, wobei Sonne und Wolken für intensive Farben und stahlblaues Wasser sorgen. Wir bekommen das Gefühl, dass die Reinheit des Lichts mit jedem Kilometer nach Norden zunimmt. Die Bäume verschwinden auf den letzten Kilometern Richtung Norden völlig aus der Lanschaft, dafür werden die Ausblicke auf schroffe Felsen und die Buchten und Fjorde 300 Meter unter uns immer wahnwitziger.
Das Massentreiben am Nordkap selbst verkraften wir dank mentaler Vorbereitung sehr gut, nur als gegen 22 Uhr noch einmal zehn Reisebusse ihre Ladung ausspucken, geraten wir kurz ins Grübeln, fangen uns dann aber sehr schnell. Am Abend wird es fast windstill, die Temperatur ist mit 7 Grad am Tag und 5,5 Grad in der Nacht für die Region außergewöhnlich hoch, und die Mitternachtssonne brennt gleißend hell. Die Fernsicht ist ausgezeichnet, steile Felsen stürzen fast senkecht ins Meer und Richtung Norden erstreckt das endlose blaue Meer bis zum Horizont, dahinter liegt außer einigen fernen Inselchen nur noch der Nordpol. Wir wissen unser Glück sehr zu schätzen, denn die meisten Besucher sehen bei dem sonst hier üblichen Wetter nicht einmal das Meer direkt unter dem Felsen. Das mag auch die Ursache für die vielen negativen Berichte sein, schon oft haben wir auf dieser Reise bemerkt, wie sehr das Wetter die Wahrnehmung und die eigene Stimmung beeinflusst.
Unter diesen Umständen können wir nicht anders als uns wohl zu fühlen und den Ausblick von dieser Klippe zu genießen, gepaart mit dem zufriedenen Gefühl, an diesem Wendepunkt angekommen zu sein. Das Treiben um uns herum grenzt an Wahnsinn: Im Minutentakt kommen fast bis Mitternacht Wohnmobile, Motorräder, Massen von Radfahrern und die Reisebusse auf den Platz. Die Wohnmobile parken eng gedrängt wie Autos auf einem Supermarkt-Parkplatz. Auf den Wahnsinn haben wir nur eine Antwort: Dr. Drunk muss das erste selbstgebraute Bier herausrücken und probieren ob es schon schmeckt. Ein irrer Dr. Drunk im weißen Kittel passt hier ideal ins Bild, schließlich müssen weitere Filmaufnahmen für die mobile Version des Bier-Films gemacht werden. Auch der erste Probeschluck muss für den Film festgehalten werden. Das Abfüllen des Bieres ist jetzt 7 Tage her. Obergäriges Bier erlangt erst nach 10-14 Tagen Trinkreife, doch wir probieren traditionell bereits nach etwa einer Woche schon das erste noch nicht ganz ausgegorene Bier. Man kann zu diesem Zeitpunkt schon schmecken, in welche Richtung es geht und ob alles in Ordnung ist. Hinzu kommt noch die magische Bedeutung eines jeden Ziels und Wendepunktes, denn auf das Nordkap müssen wir anstoßen.
Die Neugier wird belohnt. In der letzten Woche hatten wir schon gesehen, dass das in Flaschen abgefüllte Bier trotz Schaukelei im Auto nicht zu Überdruck, übermäßiger Schaumbildung, Explosionen oder sonstigem rüpelhaften Verhalten neigt. Sprich, es ist durchaus möglich, auf Reisen Bier in Flaschengärung mitzunehmen. Die erste Probe zeigt uns nun, dass das Bier zwar noch unreif ist, aber einen sehr guten Geschmack entwickeln wird. Die erste Flasche schmeckt schon sehr lecker, und wie meistens bei unserem Selbstgebrauten begeistert uns der sehr stabile Schaum.
In diesem Sinne also: Skål auf das Nordkap, auf unser erfolgreich unterwegs gebrautes Bier, auf die bislang zurückgelegte Etappe und auf die noch vor uns liegende Etappe zurück in Richtung Süden!