Bordbuch-Eintrag: Ankunft in Kurai 5.9.2012, Kilometerstand 12107, 119. Reisetag. Wetter 18 Grad, die Sonne brennt. Erste Nachtfröste setzen ein, bedingt durch die Höhe von ca. 1.500 m.
Etwa einmal pro Woche müssen wir unsere Vorräte an Essen und Getränken auffüllen, und so verlassen wir unseren schönen Platz am Fluss, um ein Stück weiter auf dem Chuysky Trakt Richtung Osten zu fahren. Wir sind nur noch knapp 130 km von der mongolischen Grenze entfernt. Die einzige Stadt in der Umgebung, in der man noch ein einigermaßen vielfältiges Angebot bekommt, ist Aktash. Die Stadt hat etwas über 3000 Einwohner und besteht überwiegend aus Holzhäusern und einigen Posten von Militär und Polizei. Eine irgendwie sympathische Stadt mit dem Charme, der für diese letzten Außenposten in der Wildnis so typisch ist: Alles ist rustikal einfach, doch die jungen Mädchen und Frauen tragen High Heels und sind immer perfekt geschminkt, was das angeht, muss sich unsere norddeutsche Heimat mit dem zweiten Platz zufrieden geben. Es gibt einen kleinen Markt und vier größere Geschäfte. Um alles zu bekommen, was wir auf unserer Wunschliste haben (Gemüse, Fleisch, Wurst, Käse, Milch, Sahne, Joghurt, Dosenbier, Brot, Kekse, Chips), müssen wir auf den Markt gehen und danach alle vier Geschäfte betreten. Dosenbier ist selten, wir müssen die ganze Stadt leerkaufen. In ca. einer Woche kommen wir nochmal hier vorbei, unsere Hoffnung ist, dass bis dahin eine neue Lieferung Dosenbier eingetroffen ist.
Die Landschaft wird dramatisch, entrückt, bezaubernd, als die Straße sich aus dem Flusstal herauswindet und über eine kleine Hochebene führt. Leuchtend gelbe Steppe, hellgrüne sanft geschwungene Wiesen und dunkelgrüne Wälder heben sich in kräftigen dunklen Farben vor dem tiefblauen Himmel ab. Auf der Südseite ragen die verschneiten felsigen Viertausender zackig in den Himmel, der Schnee gleißt in der Sonne. Auf den ersten Blick sieht die Landschaft aus wie ein Schweizer Alpenpanorama. Doch auf den zweiten Blick sehen wir, wie fremd darin die hügelige Steppe und die rötlich schimmernden Felsen der Berge auf der Nordseite wirken.
Nur ab und zu passieren wir einen Einödbauernhof, aber die Vieh-Herden weiden überall und ziehen dabei weit in die Steppe hinaus, es gibt keine Zäune. Mit Auto, Motorrad oder Pferd werden sie zisammengetrieben oder zum Melken gebracht. Andere Menschen außer diesen Vieh- Hirten trifft man nicht. So ähnlich stellen wir uns die Mongolei vor. Dafür, dass wir dort nicht mehr hinkommen, dürfen wir nun wenigstens mal reinschnuppern, es fehlen nur noch die Jurten der Nomaden. Und was sollen wir sagen, es gefällt uns!
Die Straße wird irgendwann wieder in das Tal des Flusses zurückführen, also suchen wir uns vorher noch einen Übernachtungsplatz auf dieser Ebene, mit Blick auf dieses einmalige Gebirgspanorama. Mit Solarzellen auf dem Dach steht man immer gerne in einer freien Ebene, um genügend Solarstrom zu gewinnen. Mit Solarzellen auf dem Dach und Ofen in der Wohnung steht man am liebsten am Waldrand, um genügend Licht zu haben und gleichzeitig noch Holz sammeln zu können. Diese Ansprüche sind nicht immer einfach zu vereinen, doch in dieser Landschaft gelingt es uns relativ einfach. Wir wählen einen freien Platz am Waldrand, Holz liegt genug herum. Wie wir am nächsten Morgen sehen, ist das auch notwendig, Rauhreif bedeckt das Gras, als wir die Tür öffnen. Innen sind es noch fünf Grad. Das ist ok zum Schlafen, aber nicht zum Frühstücken. Zum Glück dauert es nach Anheizen des Ofens nur eine halbe Stunde, bis die 20 Grad- Marke überschritten wird. Als Ausgleich für die kalten Nächte werden wir dafür noch einmal mit einer wochenlang anhaltenden Schönwetterperiode belohnt, es scheint fast immer die Sonne, und 20 Grad werden tagsüber fast immer erreicht.
Dieses Mal haben wir uns wohl aus Versehen zu nahe an einen Einöd-Hof gestellt, denn es kommen drei junge Männer auf einem Motorrad dahergefahren, um Schafe zusammenzutreiben. Normalerweise sind solche Besuche unproblematisch, es wird kurz nachgesehen, wer sich denn da mit seinem Truck in die Landschaft gestellt hat. Doch die drei jungen Männer sind schwer betrunken, sie betonen, dass wir auf ihrem Grund stehen, was nicht geht. Sie sind sich selbst nicht einig: Der eine will uns hier gar nicht haben, der andere will Geld. Der der Geld will, wirkt noch am klarsten, und so handle ich mit ihm aus, dass er 200 Rubel (5 Euro) bekommt. Dafür werden wir zwei Nächte bleiben, aber diese Jungs in der Zeit nicht wieder sehen. Wahrscheinlich werden sie sich noch eine Flasche Wodka kaufen. Wir hätten auch einfach woanders hinfahren können, aber die Faulheit siegt. Die Treppe war schon installiert, das Ofenrohr schon angeschlossen, keine Lust, das alles wieder abzubauen. Und sie sind tatsächlich nicht wiedergekommen. Wie wir hinterher feststellen, hatte dieser Platz eindeutig das beste Panorama und auch gute Möglichkeiten, diese schöne Landschaft zu Fuß zu erkunden. Es hat sich also gelohnt.
Nach den zwei Nächten fahren wir noch einmal dreißig Kilometer nach Osten. Die Hochebene endet bald, und wir sind wieder in dem engen Tal des Chuya Flusses. Der Platz, den wir dort finden, ist recht weitläufig und liegt sehr abseits. In den fünf Tagen, die wir dort verbringen, kommt nur ein einziges Auto dorthin, um eine Stunde Rast zu machen. Auf den ersten Blick ist es ein recht “gewöhnlicher” Platz am Fluss, für diese Region eigentlich nicht besonderes: Wiesen am Fluss, eingerahmt von zackigen Bergen, teilweise bewaldet und teilweise nackter Fels. Der Durchreisende hätte diesen Platz gar nicht zur Kenntnis genommen. Doch je länger wir hier verweilen, desto mehr spüren wir, dass dieser Platz seine eigene Magie und seinen eigenen Zauber hat. Der Himmel ist meist wolkenlos, und besonders morgens und abends sind die Farben und Kontraste von einer nie gesehenen Intensität. Mehr geht ohne LSD wohl kaum. So grüne Bäume vor so blauem Himmel, so rote Berge und so gelbes Herbstlaub habe ich wohl noch nicht gesehen, und dann in dieser Kombination. Dazu kommt mal wieder der tosende Fluss direkt vor der “Haustür”, der für uns langsam schon Normalität geworden ist. Es gibt Legenden, die besagen, dass das Shambala der Buddhisten im Altai nahe des Berges Belucha liegt. Beurteilen kann ich das nicht, aber ich kann zumindest teilweise verstehen, warum diese Legende entstanden ist.
Beim Besteigen der umliegenden Hügel erschließen sich immer neue Ausblicke, die die Weite und Leere der Landschaft erahnen lassen. Schon hier an der wichtigsten Straße ist es recht einsam, dahinter erstrecken sich über hunderte Kilometer Regionen, die überhaupt nicht ans Straßennetz angebunden sind. Dorthin kommt man nur zu Fuß oder mit dem Pferd. Mal etwas ganz anderes zu Essen gibt es an einem der Abende hier. Mehrere Tausend Kilometer von irgendeiner Küste entfernt macht Sylvia ein leicht modifiziertes Seefahreressen: Sibirisches Labskaus.
Damit ist noch einmal ein Wendepunkt unserer Reise erreicht. Schon die Grenze zu China in Kasachstan war ein solcher Wendepunkt, seitdem nähern wir uns der Heimat ja schon wieder. Doch der Abstecher in den Altai hat uns noch einmal nach Osten geführt, der östliche Punkt unserer Reise ist hier. Unser Standort ist östlicher als fast der gesamte indische Subkontinent. Wir sind auf demselben Längengrad wie Bhutan, Bangladesh und Tibet, haben fünf Stunden Zeitverschiebung zur Heimat.
Doch ab jetzt geht es endgültig, zunächst noch langsam, zurück nach Westen. Näher werden wir der Mongolei nicht kommen, denn irgendwo hier beginnt das in Russland immer hochsensible Grenzgebiet, für das man wieder eine Sondergenehmigung bräuchte. Der Rückweg führt als erstes wieder nach Aktash, wo wir schon eine Woche zuvor unsere Vorräte aufgefüllt hatten. Und siehe da: Überall sind die Dosenbier- Bestände wieder aufgefüllt worden. Als mir dann noch der Plastik- Automat erklärt wird, an dem ich dann zukünftig ohne fremde Hilfe mein Handy-Guthaben für das Internet aufladen kann, fühle ich mich langsam wie ein halber Russe. Auch der Geldautomat der Sberbank schreckt mich schon lange nicht mehr, wenn der Bildschirm einfach dunkel wird, weil man als Sprache Englisch ausgewählt hat. Wenigstens gibt er ja die Karte wieder raus, wenn man Abbrechen drückt. Dieser Programmfehler wird wohl in zwei Jahren auch noch drin sein, auf Russisch funktioniert er ja zum Glück.