Bordbuch-Eintrag: Ankunft in Öskemen 23.8.2012, Kilometerstand 10889, 106. Reisetag. Wetter 28 Grad, die Sonne brennt.
Am Tag nach unserem Aufenthalt im Altyn Emel Nationalpark finden wir direkt an der Strasse einen kleinen See, der uns erst zu einer Mittagspause und dann sogar zum Bleiben einlädt, obwohl wir gerade mal 60 km gefahren sind. Die hellgrünen Uferwiesen sind ein wunderbarer Kontrast zu den rotbraunen Bergen im Hintergrund.
Nach den letzten erholsamen Wochen heißt es dann aber Zähne zusammenbeißen, wir wollen nun zügig die 1.000 km in den Norden Kasachstans Richtung Öskemen (zu Deutsch: der Ochsenmann) fahren, denn Ende August läuft unser Visum ab. Für uns bedeutet das einen Wechsel vom Urlaubs- in den Fahr- Modus, wenn auch durch die kürzere Reiseroute nun in gemäßigter Form, da wir keinen Grund zur Eile haben. Ich weiß inzwischen, wieviel Fahrtzeit ich Sylvia zumuten kann, und so fahren wir jeden Tag 150-200 km und suchen rechtzeitig einen Platz für die Nacht. Wie gewohnt wechseln sich bessere und schlechtere Abschnitte stetig ab, doch schneller als 50 kann man nie fahren. Auch ohne Schlaglöcher hüpft und springt der Gran Hermano wie ein Känguruh, auf den schlechten Abschnitten knallt er über die Bodenwellen oder in die Querrillen.
Die Landschaft ist endlos und einsam, alle 100 km kommt eine Kleinstadt, dazwischen einmal ein paar Dörfer, ansonsten sieht man endlose hügelige Steppe, in der einzelne Cowboys zu Pferd ihr Vieh treiben. Dort, wo das Gras etwas üppiger wächst, wird Heu für den Winter gemacht und auf kleinen randvoll beladenen Anhängern nach Hause gekarrt. Die Straßenränder sind voll von blühendem Hanf, leider nicht die richtige Sorte (trocknen und rauchen lohnt sich nicht… ). Schön anzusehen ist es trotzdem. Irgendwann stelle ich fest, dass unbemerkt erst Kilometer 10.000 unserer Reise und kurz danach auch der hundertste Tag hinter uns liegen. Das Wetter ändert sich innerhalb von zwei Tagen Fahrt Richtung Norden so dramatisch, dass man sogar tagsüber an windigen Tagen langärmlige Klamotten tragen muss, eine für uns fast fremde Erfahrung. Nachts müssen wir uns dabei mit einer zweiten Decke zudecken, noch vor ein paar Wochen brauchte man gar keine. Während mich schon Sehnsucht nach dieser noch so nahen Zeit befällt, ist Sylvia überglücklich.
Dies ist für uns nun der letzte Reiaeabschnitt auf der Europastrasse E40, auch wenn diese schon seit über 4.000 km nicht mehr durch Europa, sondern durch Zentralasien verläuft. Es gibt zwar keine Schilder am Straßenrand, doch auf jedem Atlas ist diese Straße als E40 eingezeichnet. Sie ist mit ca. 8.000 km die längste Europastraße, beginnt in Calais und endet in Ridder im kasachischen Altai- Gebirge, 110 km hinter Öskemen. Wir sind schon seit Astrachan in Russland immer wieder lange Teilstrecken auf dieser Straße gefahren, insgesamt waren es wohl einige tausend Kilometer. Die Durchquerung West-Kasachstans und Usbekistans haben wir fast ausschließlich auf der E40 absolviert. Endlose Steppen und Wüsten, aber auch einen Abschnitt der Seidenstraße mit Städten wie Buchara und Samarkand haben wir auf ihrem Weg kennengelernt. Von autobahnähnlichem Ausbau bis zur Erdpiste mit Löchern und Querrillen hat die Straße dabei alle ihr möglichen Existenzformen angenommen. Auch die jetzt absolvierte letzte Etappe auf dieser Straße zeigt uns wieder einmal die immense Größe Zentralasiens und insbesondere Kasachstans. Unzählige Male bin ich schon auf Dienstreisen in Deutschland von Aachen nach Köln ein Stück E40 gefahren, ohne mir jemals Gedanken darüber zu machen, wohin diese Straße führt, wenn man auf ihr bis zum Ende weiterfährt.
Das Zeug zu einer “Route 66 Europas und Zentralasiens” hat diese Straße allerdings nicht. Dazu müßte es eine Massenbewegung von Abenteurern Richtung Osten geben, eine Art Aufbruchstimmung, wie vor 30 bis 40 Jahren auf dem “Hippie-Trail” über Persien und Afghanistan nach Indien. Doch außer auf dem Seidenstraßen- Abschnitt in Usbekistan trifft man selten einmal andere Reisende. Für eine Route 66 fehlen auch die Bars mit Musik, in denen die Abenteurer sich treffen. Diese Bars heißen hier Chaikhana, es gibt Tee und Bier, Schaschlik, Plov und Lagman- Suppe, aber keine Musik oder sonst etwas, das zu einem längeren Aufenthalt einladen würde. Das Reisen auf dem östlichen Teil der E40 ist hart und anstrengend, dem Reisenden erschließt sich vor allem eine rauhe Schönheit der durchquerten Länder.
Nach 1.000 km Fahrt haben wir uns 60 km vor Öskemen wieder eine Pause verdient. Im Reiseführer sind die Sibinsker Seen als lohnenswert erwähnt, die wir zu diesem Zweck ansteuern. Der erste Anblick ist schockierend. Nach Verlassen der Hauptstraße und 40 km Fahrt durch absolut entlegenes und einsames Terrain finden wir die ersten beiden ziemlich kleinen Seen, die so dicht mit bunten Datschen und Ferienhäusern zugebaut sind, dass man gar nicht mehr bis zum Ufer fahren kann. Der dritte See ist zum Glück etwas größer, es gibt auch ein unbebautes Stück am Ufer, an dem wir für drei Tage unser Lager aufschlagen. Das tiefblaue Wasser und die umliegenden Granitfelsen, in die die Seen eingebettet sind, machen diesen Abstecher doch lohnenswert. Beim Herumklettern in den Granitfelsen, die die Seen umschließen, erweisen sich auch diese wieder als eigenständiger Mikrokosmos mit versteckten Geheimnissen wie eingeschlossenen Seen und Wiesen, die man von unten nicht sehen oder erahnen kann. Am Montag ist dann auch der Wochenendrummel der Datscha- Bewohner aus dem nahen Öskemen vorbei und es wird richtig ruhig. Wir kommen zum ersten Mal auf dieser Reise sogar dazu, unser Schlauchboot “Sylvia” zu Wasser zu lassen und paddeln damit die drei Kilometer zu dem von Felsen umschlossenen gegenüberliegenden Ufer. Hier hätten wir nun absolute Ruhe erwartet, denn man kommt nur übers Wasser dorthin, doch es ist mehr los als am ans Straßennetz angebundenen Ufer. Zeltkolonien mitten im Wald, ein inoffizieller FKK Strand sowie das einzige Windsurfbrett von ganz Kasachstan (echtes Windsurfing mit Segel, nicht ein Surfbrett zum Wellenreiten wie in Kalifornien oder Australien) anstatt der erwarteten Einsamkeit empfangen uns hier. Die Abende sind seit längerem auch wieder mal gesellig, denn mit Heiko und Karla haben wir hier auch andere Autoreisende als Nachbarn. Die beiden sind uns schnell sympathisch. Sie waren gerade in der Mongolei, da gibt es natürlich viel zu erzählen.
40 km hinter Öskemen gabelt sich die Straße. Wir nehmen die linke Abzweigung in Richtung russische Grenze und verlassen damit die ehrwürdige E40, die rechts in Richtung Ridder führt und dort 65 km später endet. Auf den ersten 30 km hinter der Abzweigung hat die Straße neben ihrem Namen auch jeglichen Straßenbelag und jede Konsistenz verloren, der Schnitt sinkt auf knapp 20 km/h. Doch irgendwann wird langsam alles wieder besser…