Bordbuch-Eintrag: Ankunft in Akzhigit 27.6.2012, Kilometerstand 5988, 49. Reisetag. Wetter 39 Grad, die Sonne brennt.
Bevor wir die Wohlstandsinsel Atyrau wieder verlassen, müssen wir noch eine Werkstatt finden, um den Auspuff des Gran Hermano schweissen zu lassen. Die 300 km übelste Straße (wie fast immer in Grenznähe) von Astrachan nach Atyrau haben ihn an Schalldämpfer einreißen lassen. In den Außenbezirken, wo es auch schon nicht mehr so schick aussieht wie im Zentrum (dafür ist es aber wieder belebter), finden wir schnell eine Werkstatt. Die Begeisterung für unseren Gran Hermano ist riesig, es werden viele Fotos gemacht und gleich auf den Werkstatt-PC heruntergeladen. Nach der erfolgreichen Auspuff- Reparatur gibt es keinen Grund mehr, sich weiterhin in einer Stadt aufzuhalten, also fahren wir gleich in die Steppe, um uns einen Platz für die Nacht zu suchen. Wie es auf Reisen immer so ist: Bei einem kurzen Stopp nähern sich von hinten auch Karsten und Sylvia, mit Loukas zurück an Bord. Für die beiden ist also alles gut ausgegangen. So gibt es noch einen Grund zu feiern, bevor sich am Tag drauf unsere Routen trennen.
Wir bewegen uns weiter durch die pottebene Steppe, Tag für Tag (natürlich auch wegen unseres langsamen Tempos, mit dem Motorrad wäre man in 2 Tagen da durch), ohne dass sich die Landschaft verändert. Die Dörfer oder Kleinstädte, die alle 100 km kommen, laden auch nicht unbedingt zum Verweilen ein. Man bekommt gerade das Nötigste, und selbst Wasser auffüllen wird schwierig. Nachdem wir eigentlich schon die Erlaubnis hatten, an einer Tankstelle 60 Liter aufzufüllen, werden wir mittendrin beim Auffüllen mit Schimpf und Schande verjagt. Sylvias Nerven liegen nun blank, das kann sie nicht ertragen. Abends setzt sich das Ganze noch fort. Wir haben ja auch noch etwas lecker Wodka an Bord, und nach dessen Genuss gibt es einen lauten mehrstündigen Streit, bei dem sich der ganze Frust entlädt. Sie meint, was für ein Irrsinn, freiwillig in so ein rauhes Land zu fahren, das ist doch die Hölle. Eine schmerzhafte Rippenprellung, die Registrierung (obwohl schon erledigt), Widrigkeiten, schlechte Straßen und lange Etappen, auf denen nichts zu einem längeren Aufenthalt einlädt, sind ihr einfach zu viel. Und ich habe den Mist erdacht und verzapft und habe zu wenig Verständnis. Sie hat ja Recht, aber meiner Meinung nach ist Kasachstan zum Einen ja nicht ein Ziel, sondern ein Land auf dem Weg, und zum Anderen kann ich auch dieser Steppe etwas abgewinnen:
Wenn es keine Ablenkung mehr gibt (kein Fernsehen, kein Unterhaltungs- Bla Bla und dann auch keine Landschaften, die einen durch Schönheit verzaubern), dann sieht man nur sich selbst, und das recht ungefiltert. Wenn das Ergebnis dann Streit ist, dann ist das eben die Wahrheit. Doch nur wenn man diese Wahrheit kennt, kann man den Streit lösen, anstatt ihn weiter mit im Gepäck zu führen. Und auch nicht nur deswegen: Thank you Steppe for this unfiltered look auf myself. Was noch hinzukommt: Das Abendlicht mit seinen Sonnenuntergängen und Farbspielen verzaubert immer wieder diese öde Landschaft und zeigt, wer der wahre Meister ist: Die Natur mit Ihrem Einfallsreichtum. Der Mensch mit seinen Bauwerken hat es jedenfalls nicht geschafft, die Steppe schöner zu machen.
Am nächsten Morgen ist der Frust erstmal verflogen (bis zum nächsten Streit, der auf so einer Tour quasi schon fest vorprogrammiert ist – denn Fakten und Charaktere ändern sich letztendlich nicht), der Streit hat gereinigt. Sylvia ist nach eigenem Bekunden schließlich Optimist (ich übrigens auch), und so sind wir wieder ein Herz und eine Seele und starten fröhlich in den nächsten Tag, vor allem weil wir einfach die Weiterfahrt verweigern und einen Tag in dieser Einöde stehen bleiben. Das bringt mehr Ruhe und mehr Erkenntnis.
Absichtlich habe ich einmal etwas ausgeholt, denn beim Thema Steppe denke ich “Ein Wort sagt mehr als tausend Bilder”, da man das hier beschriebene wohl schlecht fotografieren kann (ich kenne nur einen, der das könnte).
So schnell lässt uns die Steppe auch noch nicht los: Eigentlich würden wir jetzt nach Usbekistan einreisen, doch unsere Visa erlauben das erst in vier Tagen. Ein Ausflug ans Kaspische Meer würde 900 Extra Kilometer bedeuten und würde sich nur lohnen, wenn wir dort eine Woche stehen würden. Diese Extra- Woche wollen wir uns für interessantere Gegenden aufbewahren. Auf der Landkarte sieht alles klein aus, erst seitdem wir hier unterwegs sind, begreifen wir die Entfernungen wirklich. Wir entscheiden also, uns vier Tage mitten diese Einöde zu stellen, quasi an einen Platz, den wir uns nicht wirklich selbst ausgesucht haben. Nach fast 50 Reisetagen sehen wir das dafür schon sehr entspannt. Im Alltag zu Hause wird man schon hektisch, wenn sich Pläne um eine Stunde verzögern, doch dieser Modus verschwindet bei mir etwa nach 30 Reisetagen (wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass man normalerweise 28-30 Tage Jahresurlaub hat).
Nachdem wir in Beineu endlich 150 Liter Wasser aufgefüllt haben (wir mussten für diese Menge direkt zum Wasserwerk fahren, wo die LKW aufgefüllt werden, die das Wasser in die Dörfer bringen), fahren wir über die hoffnungslos kaputte Straße bis kurz vor die usbekische Grenze. Obwohl schon in Asien, ist dies immer noch die Europastraße E40, und die knapp 100 km zwischen Beineu und der usbekischen Grenze sind wohl deren übelster Abschnitt. Etwas besser wird es, als der völlig mit Löchern übersäte Asphalt ganz aufhört. Die Erdpiste mit Querrillen ist da schon besser fahrbar. Da dies die einzige Straße von West- Kasachstan nach Usbekistan ist, quälen sich auch viele LkW im Schneckentempo über diese Piste. Vor allem Willi Betz LKW fahren hier in Mengen, der muss irgendwo ein paar tausend davon im Depot haben. Das letzte kasachische Dorf heißt Akzhigit, trostloser geht es kaum. Wegen der letzten vier Buchstaben taufen wir es um in I-Gitt. 12 km hinter I-Gitt finden wir dann unseren Standplatz im Nichts für die nächsten vier Tage. Ansatzweise können wir vielleicht erahnen, wie die vielen Entdecker auf den Spuren der Seidenstraße sich gefühlt haben, die früher zu Pferd und Kamel diese Gegend Richtung Samarkand und Buchara durchquert haben. Trotz fast 40 Grad am Mittag geht es uns im Vergleich zu ihnen jedoch viel zu gut, denn der Gran Hermano ist für solche Aufenthalte wie geschaffen: Er wirft wegen seiner Höhe lange Schatten, hat einen Kühlschrank voller Bier, viel Essen an Bord, und auch sonst jede Menge Luxus. Das war früher bestimmt entbehrungsreicher.
Jeden Abend genießen wir nach der Hitze des Tages die Farben des Sonnenunterganges und das Mondlicht in der Steppe bei 27 Grad und einer milden Abendbrise. Das Paradoxe: Auch im Nichts entwickeln wir Heimatgefühle. Als wir am dritten Tag freiwillig nach I-Gitt zurückfahren, weil das Bier bei der Hitze schneller alle ist als gedacht, wollen wir beide unbedingt an genau den gleichen Platz zurück, an dem wir vor der Einkaufstour waren. Sogar der Gran Hermano wird exakt so ausgerichtet, wie er vorher gestanden hat, Ordnung muss sein. Eigentlich hätten wir uns an jeden x- beliebigen Platz im Nichts stellen können, aber diesen hier haben wir lieb gewonnen. Auch die Kamele, die bislang immer neugierig in respektvollem Abstand vorbeigezogen sind, kommen nach unserer Rückkehr bis ganz heran und mustern nun alles aus der Nähe. Am vierten Tag kommt dann auch menschlicher Besuch. Dass man drei Tage irgendwo im Nichts steht, scheint recht normal zu sein, doch am vierten Tag muss man doch mal nach dem Rechten sehen. Die Soldaten von der Grenztruppe wollen, dass wir aus dieser militärisch sensiblen Region wegfahren, bis morgen dürfen wir dann aber doch bleiben. Die Kamelhirten, von denen der Jüngste bekennender Rammstein-Fan ist, wollen nur mal vorbeischauen.