Bordbuch-Eintrag: Ankunft in Nationalpark Altyn Emel 11.8.2012, Kilometerstand 9639, 94. Reisetag. Wetter 33 Grad, die Sonne brennt.
Nach vier Nächten Im Sharyn Canyon verabschieden wir uns von dieser einzigartigen Landschaft und setzen unseren Weg durch die kasachische Prärie fort. Nach einigen Einkäufen und Auffüllen von Wasser in dem Dorf Koktobel, das auch im Wildwest- Ambiente Amerikas nicht auffallen würde, kreuzen wir erneut den Lauf des Sharyn Flusses und finden dort einen Platz direkt am Ufer, der so schön ist, dass wir uns spontan entscheiden, einen ganzen Tag dort zu verweilen. Wir stehen direkt am Ufer dieses klaren Gebirgsflusses, Wäsche waschen und Körperpflege sind unterwegs stressloser nicht zu bekommen. Das permanente Rauschen des Wassers wirkt außerdem direkt auf die Kreativität, fast wie von selbst entstehen in meinem Kopf Bilder unseres zukünftigen Lebens. Wir sind darin viel beschäftigt, ich arbeite an drei Projekten gleichzeitig (eins mit Motorrädern, eins mit Internet, eins mit Bierbrauen), ich bin mein eigener Herr und Meister, Sylvia und ich ergänzen uns bei diesen Arbeiten, ohne dass ich sie dabei zu sehr in Beschlag nehme…
…mal sehen was draus wird, aber eine Vision der nächsten Jahre sollte mir diese Reise schon bringen…
Mit den Kilometern mache ich noch eine Feststellung: Die Bullen sind weg! Etwa 100 km hinter Almaty habe ich die letzten gesehen, hier lauert nicht einmal mehr am Kreisverkehr in die Stadt Zharkent oder an der strategisch bedeutenden Abzweigung Richtung chinesischer Grenze eine Polizeistreife mit den beliebten orangefarbenen Knüppeln (sehen aus wie Laserschwerter), um ein paar Geldscheine unter dem Vorwand irgendeiner Ordnungswidrigkeit abzocken zu können. Doch auch ohne Bullen herrscht hier merkwürdigerweise keine Anarchie.
Mitten in der Steppe, auf einem 80 km langen Abschnitt fast ohne Dorf, dafür aber mit viel Wind und Hitze, tauchen wieder wahre Helden auf: Kate und Eric aus den USA, mit dem Fahrrad unterwegs von der Mongolei in die Türkei. Gerade haben wir zu einem kurzen Gespräch angehalten, kommt noch ein Japaner hinzu (den Namen konnte ich nicht verstehen), auf dem Weg nach Portugal. Wieder mal ohne Worte, ich ziehe meinen Hut!
Dann kommt in Zharkent ein Wendepunkt dieser Reise. Diese Stadt sieht schon irgendwie chinesisch aus, zumindest stelle ich mir vor, dass es hinter der Grenze auch so aussehen könnte. Was es in ganz Kasachstan nicht gab: Wir fragen auf Russisch, die Antwort kommt auf Englisch. Das Sortiment der Geschäfte und Märkte wirkt chaotischer und vielfältiger als im Rest Kasachstans, zumindest für eine Stadt dieser Größe. Der Wendepunkt selbst ist an einem Wegweiser, der die Entfernung zur chinesischen Grenze mit 33 km beziffert. Hier muss ich nun den Traum der China- Durchquerung symbolisch noch einmal begraben, an einem Ort, an dem nach über 9.500 gefahrenen Kilometern der Weg nach China kürzer ist als mein ehemaliger Arbeitsweg. Doch nach einer 180 Grad Drehung zeigen unsere Räder zum ersten Mal seit über drei Monaten Richtung Westen, vorher machen wir noch ein paar alberne Fotos, auf denen ich mir wegen meiner geplatzten Träume die Haare raufe.
Auf unserer Fahrt Richtung Westen sehen wir nun immer wieder Konvois aus nagelneuen chinesischen Kleinbussen, LKW und Betonmischern, die auf eigener Achse zu ihren neuen Besitzern in Kasachstan gebracht werden. Wieder einmal sind wir Zeitzeuge der langsamen Verlagerung von Geld und Macht nach Osten. Wie schon oftmals zuvor auf dieser Reise stellen wir fest, dass die Straßen im Osten der bereisten Länder am besten sind.
Zum Abend sehen wir dann noch die moderne Form ländlichen Lebens: Wie ein Schäferhund umkreist ein Viehtreiber seine Kamelherde hupend mit dem Zweirad, perfekt hält er sie zusammen und treibt sie nach Hause. Die Zeit reicht gerade für einen kurzen Stopp an unserem zur Nacht gerüsteten Gran Hermano, einen kurzen Gruß und ein Lachen mit der obligatorischen Goldzahnreihe, dann muss er wieder los. Fasziniert sehr ich ihm hinterher, denn trotz des zerklüfteten Geländes hat er keine Enduro, sondern einen einfachen chinesischen (was sonst?) Roller.
Unser nächstes Ziel in dieser abgelegenen Berglandschaft heißt Nationalpark Altyn Emel (zu Deutsch Alter Eumel oder so ähnlich). Dieser ist bekannt für seine Größe, seinen Tierreichtum und seine singende Düne, eine 3 km lange und 150 Meter hohe Sanddüne, die bei richtigem Wind und trockener Luft das Geräusch eines Flugzeugtriebwerks imitiert. Unser erstes Problem lösen wir sehr elegant: Landkarten zeigen die Wege in diesem Park nicht, und Wegweiser sind in Kasachstan auch meist erst einige Kilometer nach einer unbeschilderten Kreuzung zu finden (so etwa als Bestätigung: Du hast also tatsächlich die richtige Straße gefunden!). An der vermuteten Abzweigung zum Nationalpark steht aber eine große Wand mit einer aufgemalten Landkarte des Parks. Diese fotografieren wir einfach, und so nutzen wir nun das Kameradisplay als Navi. Bevor wir in den Park hineineinfahren dürfen, müssen wir uns im Büro der Verwaltung in Basshi anmelden und Route und Aufenthaltsdauer angeben. Mit der Quittung läßt man uns dann durch die Schranke. Nun geht es über 40 km durch die Steppe, bis wir die singende Düne erreichen. Auf dem Weg sehen wir in der Ferne immer wieder Gazellen und Wildesel. Schon von weitem heben sich dann die drei gelblichen Sanddünen von der graugrünen Steppe und den dunklen bis schwarzen Bergen ab. Als wir dort ankommen, sind gerade eine Familie und ein Trupp junger Leute aus Almaty dort und rüsten sich zur Besteigung. Die jungen Almatiner möchten vor der Besteigung noch einen Wodka mit uns trinken, dann gehen sie los.
Wie meistens in den Nationalparks sind diese Tagesgäste am frühen Nachmittag wieder weg, nun hat meine Stunde geschlagen. Solche großartige und leere Landschaft kann ich am besten genießen, wenn niemand mehr da ist. Kaum ist das letzte Auto verschwunden, beginne ich den Aufstieg. 150 Meter Höhe durch den teilweise sehr feinen und weichen Sand sind kein Pappenstiel, doch es lohnt sich. Sobald ich die Düne betrete, bemerke ich, sie ist eine Welt für sich, mit eigenen Winden, eigener Vegetation und eigener Tierwelt. Das letzte Drittel ist so anstrengend, dass ich alle fünf Schritte anhalten muss. Doch der Ausblick von oben entschädigt für alles: Der Kontrast zwischen wüstenartiger Dünenlandschaft und dem breiten blauen Band des Flusses Ile in der Ferne ist einfach beeindruckend. Der Wind hat alles fest im Griff: Meine Fußspuren vom Aufstieg sind beim Abstieg so gut wie verschwunden, noch eine halbe Stunde später ist die Düne wieder jungfräulich unberührt. Es fehlen nur etwa 500 Gramm Sand, diese habe ich nun in Haar, Hosentaschen, Portemonnaie und Kameratasche.
Leider ist die Regelung in diesem Nationalpark recht streng: Übernachten dürfen wir an diesem einmaligen Ort nicht, wir wären sonst bestimmt einige Tage geblieben. 12 km entfernt wohnt der “Inspektor” (das steht auf seinem Sherrifstern, den er uns stolz zeigt), dort müssen wir unseren Gran Hermano nachts abstellen. Ihn fragen wir auch, warum die singende Düne heute nicht singt, und seine Antwort ist folgende: “Sie singt, wenn Du mit dem Arsch herrunterrutscht und dadurch Sand in Bewegung setzt.”